Das Beste aus Online und Präsenz — Open-Book-Prüfungen mit handschriftlichen Lösungen und digitalem Bewertungsworkflow

Anmerkung vom 01.11.2023: Dieser Artikel wurde zur Veröffentlichung im Sammelband mit dem aktuellen Arbeitstitel „Digitales Prüfen für die Hochschulpraxis“ eingereicht, der im Rahmen des Innovationsprojekts PITCH („Prüfungen innovieren, Transfer schaffen, Chancengerechtigkeit fördern“) der Universität Duisburg-Essen erscheinen soll, das bis Mitte 2024 von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre gefördert wird. Der Artikel steht auf meinem Blog zum öffentlichen Peer Review zur Verfügung. Ich freue mich über Rückmeldungen in den Kommentaren.

Anmerkung vom 28.12.2023: Ich habe auf Basis der Rückmeldungen der Gutachter*innen einige Kleinigkeiten korrigiert und angepasst.

Die Gestaltung einer adäquaten, fairen, transparenten, authentischen, effizienten, skalierbaren und (einigermaßen) rechtssicheren Prüfung ist aus meiner Sicht mindestens so komplex und aufwändig wie die entsprechende Gestaltung und Konzeption der zugehörigen Lehrveranstaltung selbst. Ausgelöst durch die Kontaktbeschränkungen der Corona-Pandemie habe ich den seit meiner Studienzeit und meinen Anfängen als Lehrender/Prüfer nie wirklich in Zweifel gezogenen Status quo von schriftlichen und beaufsichtigten Präsenzklausuren in Frage gestellt und verschiedene Varianten offenerer Prüfungsformate mit (teil-)digitalen Bewertungsprozessen entwickelt und erprobt, über die ich in diesem Beitrag berichten möchte. Dabei gehe ich zunächst auf die Ziele und Herausforderungen von Prüfungen insbesondere in den Ingenieurwissenschaften ein, beschreibe dann die während und nach der Pandemie eingesetzten Prüfungsformate und schließe mit einem Ausblick auf zukünftige Prüfungen.

Was sind Herausforderungen und Zielstellungen von Grundlagen-Prüfungen in den Ingenieurwissenschaften?

Eine summative Prüfung bildet häufig den Abschluss eines Moduls oder einer Lehrveranstaltung, insbesondere in den Grundlagenfächern. Bei größeren Kohorten ab ca. 20 Studierenden sind schriftliche Prüfungen aufgrund ihrer besseren Skalierbarkeit gegenüber zeitaufwändigeren mündlichen Prüfungen vorteilhaft. Inhaltlich muss die Prüfung im Sinne des Constructive Alignment natürlich zu den Lernzielen und Lernmethoden des Moduls passen und sollte den Studierenden auch ein wertvolles und konstruktives Feedback zu ihrem Lernprozess geben, selbst wenn dieses bei einer summativen Prüfung am Ende eines Moduls nur für darauf folgende Module anwendbar ist. Neben der eigentlichen Messung und Kontrolle des Lernerfolgs dient eine Prüfung aus Sicht der Studienorganisation aber vor allem der individuellen Bewertung, Bepunktung, Benotung oder dem Vergleich der Leistung der Studierenden.

In den Ingenieurwissenschaften sind Prüfungen dabei zum überwiegenden Teil schon immer recht kompetenzorientiert gestaltet gewesen. Meist bestehen Prüfungsaufgaben nicht aus reinen Wissensabfragen sondern sind immer anwendungs- und problemorientiert gehalten. Es kommt für einen Prüfling also nicht nur darauf an, eine Methode zu kennen, zu beschreiben oder erklären zu können. Stattdessen ist es wichtig, eine Methode für bzw. auf eine vorgegebene spezifische Problemstellung anwenden zu können. Bei einfacheren Aufgaben ist die Methode dabei fest vorgegeben. Bei komplexeren Aufgaben und Problemen geht es auch darum, aus einer Sammlung bekannter Methoden und Verfahren, eine möglichst passende und effiziente Variante für die vorgegebene Problemstellung auszuwählen und dann zielgerichtet und korrekt anzuwenden. Mit solchen Prüfungsaufgaben lässt sich eine Handlungskompetenz in ergebnisoffenen Situationen relativ gut prüfen, die bei erfolgreichen Prüflingen auch ein großes fachspezifisches und gut vernetztes Domänenwissen voraussetzt.

Prüfungsaufgaben insbesondere in der Elektrotechnik und verwandten Fächern bestehen dabei meist aus einem kurzen Text zur Erklärung der Problemstellung, einem zugehörigen Schaltbild oder Diagramm und einer oder mehrerer konkreter Aufgaben oder Fragestellungen zu gesuchten Größen. Zur Lösung notieren Studierende einen Ansatz und Rechenweg, schreiben Formeln auf, stellen diese in Richtung der gesuchten Größen um und setzen sie ineinander ein, verrechnen Zahlen sowie Einheiten miteinander, und skizzieren entsprechend vereinfachte Schaltungen oder erhaltene mathematisch Funktionen in neuen Diagrammen. All das funktioniert kaum mit Single-Choice- bzw. Multiple-Choice-Fragen oder den anderen typischen Online-Aufgabenformaten, jedoch sehr einfach und intuitiv mittels Handschrift, einem herkömmlichen Stift und analogem Papier.

Natürlich kann man Formeln auch in Formeleditoren oder Textsatzprogrammen wie LaTeX schreiben, Gleichungen in Computeralgebrasystemen wie Maple oder Maxima umstellen, eine Zahlenrechnung in Numerikprogrammen wie MATLAB oder GNU Octave durchführen, Diagramme per Computerprogrammen wie Gnuplot plotten oder Schaltungen in Netzwerksimulatoren wie LTspice simulieren, und all das machen berufstätige Ingenieur*innen auch täglich. Diese weiterführenden Kompetenzen gehen aber etwas über das Ziel einer Grundlagenlehrveranstaltung hinaus und werden von Studierenden eher in Laborpraktika, Projektseminaren oder Abschlussarbeiten entwickelt.

Außerhalb des Zielbereichs klassischer Grundlagenprüfungen sind auch überfachliche Kompetenzen wie Kollaboration und Kooperation, effektive Gruppenarbeit oder Kommunikation, die im Rahmen des Studiums ebenso in Laborpraktika oder Projektseminaren entwickelt, gefördert und geprüft werden. Neben der summativen Prüfung gibt es im Modul „Grundlagen der Elektrotechnik“ ein formatives Assessment-Format zur Prüfungszulassung durch semesterbegleitende personalisierte Aufgaben mit anonymem Peer Review sowie einer Online-Leistungskontrolle in jedem Semester.

Wie liefen die Prüfungen unter Pandemiebedingungen?

Erstes Corona-Sommersemester 2020 — Alles wie immer

Unter Pandemiebedingungen konnten beaufsichtige Präsenzprüfungen bzw. Klausuren aufgrund der Kontaktbeschränkungen nicht ohne weiteres stattfinden. Am Ende des ersten Corona-Sommersemesters 2020 waren Präsenzprüfungen unter Einhaltung gewisser Hygienemaßnahmen jedoch noch möglich und wurden an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg z. B. mit sehr großen Abständen zwischen den Prüflingen in einer Messehalle durchgeführt, ohne viel am bisherigen beaufsichtigen Prüfungsformat zu ändern. Studierende durften dabei im Modul „Grundlagen der Elektrotechnik“ wie in bisherigen Prüfungen als einzige Hilfsmittel eine eigene Formelsammlung auf einem A4-Blatt sowie einen Taschenrechner nutzen.

Präsenzprüfung in den Messehallen Magdeburg im Sommersemester 2020
Präsenzprüfung in den Messehallen Magdeburg im Sommersemester 2020

Erstes Corona-Wintersemester 2020/2021 — Take Home ist der Hit

Ganz anders war dann die Situation am Ende des ersten Corona-Wintersemesters 2020/2021. Die Fallzahlen waren sehr hoch und aufgrund der Kontaktbeschränkungen waren Präsenzprüfungen nahezu unmöglich. Aufgrund der Alternativlosigkeit und einer gewissen Vorhersagbarkeit dieser Situation, einer dementsprechend langen Vorbereitungszeit für ein pandemiekonformes Online-Prüfungsformat, einer hohen Gewöhnung der Studierenden an Online-Lehrveranstaltungen und den entsprechenden Umgang mit digitalen Werkzeugen sowie dem Lernmanagementsystem der Universität erschienen Online-Take-Home-Prüfungen als plausible Lösung.

Bisherige Herausforderungen bei Online-Prüfungen wie Authentizität und Originalität (Prüft man die richtige Person?), Datenschutz (Können dritte Personen unerlaubt an Informationen aus der Prüfung gelangen?), Transparenz und Chancengleichheit (Ist das Prüfungsverfahren für alle Beteiligten klar, insbesondere bei Problemfällen?) sowie Verfügbarkeit und Integrität (Kann die Prüfung sicher, valide, fair und reproduzierbar durchgeführt werden? Sind die Ergebnisse nachvollziehbar und sicher gespeichert? Was passiert bei Serverabstürzen und Verbindungsabbrüchen?) wurden dabei zum Teil etwas ausgeblendet oder angesichts der Krisensituation zumindest weniger kritisch gesehen.

Da wir in den Grundlagen der Elektrotechnik schon immer einen recht umfangreichen sowie kompetenzorientierten Katalog von Prüfungsaufgaben hatten und dieser in der Dokumentbeschreibungssprache LaTeX verfügbar war, konnte ich mit etwas Programmieraufwand die Erstellung von randomisierten Prüfungsbögen und deren E-Mail-Versand an die Studierenden automatisieren. Damit erübrigte sich die ethisch sowieso sehr zweifelhafte, wenig zielführende und auf verschiedenen Wegen angreifbare Online-Fernüberwachung bzw. das Proctoring der Prüflinge per Videokamera und Safe-Exam-Browser.

Stattdessen erlaubten wir den Studierenden einfach die komplette Nutzung aller möglichen analogen sowie digitalen Werkzeuge inklusive des Internets und kompensierten den sich daraus ergebenen Vorteil durch eine Erhöhung der Aufgabenanzahl von 9 auf 10 unter Beibehaltung der Bearbeitungszeit von 180 min in der Prüfung. Die Studierenden sollten jedoch weiterhin handschriftliche Lösungen mit Stift auf Papier schreiben, diese abfotografieren oder einscannen und im Moodle-Kurs mit ihren persönlichen Universitätslogin als primären Identifizierungsschlüssel und Sicherheitsfaktor hochladen, wofür insgesamt weitere 30 min Zeit zur Verfügung standen. Die Nutzung von elektronischen Stiften auf beschreibbaren Tablet-PCs oder Notebooks haben wir aufgrund der Chancengleichheit ausgeschlossen, weil sich dort handschriftliche Inhalte viel einfacher und schneller austauschen, korrigieren, verschieben und verändern lassen. Als zweiten Identifizierungsschlüssel und Sicherheitsfaktor gegen übermäßiges Contract Cheating und die Hilfe durch dritte Personen sollte auf jedem abfotografierten oder eingescannten Blatt auch der Studierendenausweis des Prüflings sichtbar sein.

Die anschließende Korrektur, Bewertung, Einsichtnahme und Archivierung liefern dann komplett digital über das Lernmanagement Moodle ab und funktionieren relativ gut. Herausfordernd war, dass sich die Korrektor*innen bei jeder Aufgaben nicht nur in einen anderen Lösungsweg sondern auch in eine andere Aufgabenstellung und Musterlösung hineindenken mussten, was den Aufwand signifikant erhöhte. Interessanterweise änderte sich der Notenspiegel trotz der vielen Änderungen und Anpassungen gegenüber den bisherigen Prüfungen kaum. Zusammenfassend wurde das Open-Book- und Open-Web-Format von den Studierenden gelobt. Gleichzeitig wurde aber der Wunsch geäußert, Prüfungen in Zukunft trotzdem wieder unter Aufsicht an der Universität durchzuführen, um die Chancengleichheit zu erhöhen und die unerlaubte Unterstützung durch Dritte zu erschweren. Außerdem stellte das technisch nicht übermäßig komplizierte aufgabenweise Abfotografieren und Hochladen der eigenen handschriftlichen Lösung einige Studierende von ungeahnte Herausforderungen, obwohl es im Laufe des Semesters mehrfach geübt und praktiziert wurde. Weitere Informationen zu diesem Prüfungsformat sind in diesem Artikel zu finden.

Zweites Corona-Sommersemester 2021 — Open-Web in Präsenz mit analoger Bewertung

Zum Ende des zweiten Corona-Sommersemesters 2021 rückten dann Präsenzprüfungen wieder in den Bereich der Möglichkeiten. Aufgrund der guten Erfahrungen mit dem Open-Book- und Open-Web-Format sowie den randomisierten Aufgabenbögen blieben wir bei diesem sehr offenen Prüfungsformat, luden die Studierenden aber wieder in eine Messehalle in der Nähe der Universität ein, wohin sie ihre eigenen digitalen Endgeräte im Sinne eines BYOD-Konzepts mitbringen konnten. Zur Verminderung des Korrekturaufwands und zur weiteren Erhöhung der Chancengleichheit wurde der Aufgabenpool zur Zusammenstellung der individuellen Prüfungsbögen jedoch stark reduziert, auch weil ein Austausch der Studierenden in diesem Setting stark eingeschränkt ist. Weitere Informationen zu dieser Open-Book-Präsenzklausur sind in diesem Artikel zu finden.

Auch dieses Format hat gut und relativ problemlos funktioniert, vor allem, weil die handschriftlichen Antwortbögen der Studierenden zum Ende der Prüfung einfach eingesammelt wurden und nicht individuell abfotografiert und hochgeladen werden mussten. Negativ blieb mir in Erinnerung, wie aufwändig die anschließende Logistik für die ebenso handschriftliche Korrektur der studentischen Lösungen war. Durch die Pandemie arbeiteten viele der an der Korrektur beteiligten Kolleg*innen mobil oder aus dem Home-Office, was den Austausch der analogen Prüfungsbögen drastisch erschwerte und verzögerte. Dafür musste man sich bei der Korrektur nicht mit unscharfen Fotografien mit zu geringer Auflösung, störenden Schatten oder inkompatiblen Dateiformaten auseinandersetzen. Gleichzeitig mussten die Studierenden aber sehr lange auf ihr Feedback warten, weil ich die korrigierten Lösungen erst nach Ende der kompletten Bewertung einscannen und per QR-Code-Papier an die Studierenden zurückschicken konnte. Dadurch war eine Online-Prüfungseinsicht mit einer raschen Diskussion zu konkreten Aufgabenbewertungen auch nur sehr zeitverzögert und damit ineffizient möglich. Außerdem muss man sich als Korrektor*in den kompletten Lösungsbogen der Studierenden anschauen, auch wenn man nur eine bestimmte Aufgabe korrigiert, was bei vielen Studierenden auch eine gewisse Zeit kostet. Zusammenfassend lässt sich zu dieser Variante aber festhalten, dass die früher als ganz selbstverständlich wahrgenommenen Implikationen eines analogen Bewertungsworkflows gegenüber der vorherigen rein digitalen Variante etwas negativ in Erscheinung traten.

Papierstapel mit den handschriftlichen Lösungen der Studierenden im Sommersemester 2021 — früher ganz selbstverständlich, nach einer reinen Online-Prüfung aber irgendwie nervig und umständlich in der Logistik
Papierstapel mit den handschriftlichen Lösungen der Studierenden im Sommersemester 2021 — früher ganz selbstverständlich, nach einer reinen Online-Prüfung aber irgendwie nervig und umständlich in der Logistik

Wintersemester 2021/2022, Sommersemester 2022 und Wintersemester 2022/2023 — BYOD-Prüfung mit digitalem Bewertungsworkflow

Für die Prüfungen in den drei darauffolgenden Semestern, dem Wintersemester 2021/2022, dem Sommersemester 2022 und dem Wintersemester 2022/2023, die alle auch noch unter einem gewissen Pandemieeinfluss standen, setzen wir deshalb wieder auf einen rein digitalen Bewertungsworkflow in Moodle, blieben aber weiterhin bei einem Open-Book- und Open-Web-Format als Präsenzvariante. Studierenden in Quarantäne oder mit gesundheitlichen Einschränkungen konnten trotzdem online an der Prüfung teilnehmen, mussten dann aber aufgrund der Gleichbehandlung videoüberwacht werden. Die Aufgaben waren auch deshalb weiterhin randomisiert. Die Studierenden mussten ihre handschriftlichen Lösungen erneut abfotografieren und in Moodle hochladen. Dort wurden sie dann aufgabenspezifisch von einzelnen Korrektor*innen bewertet. Studierende erhalten somit sehr schnell und individuell Feedback. Der Bewertungsworkflow in Moodle ist außerdem recht effizient und intuitiv nutzbar. Als störend wurden von den Korrektor*innen aber weiterhin der erhöhte Aufwand durch die unterschiedlichen Aufgabenstellungen und zugehörigen Musterlösungen sowie die teilweise schlechte Bildqualität der Einreichungen wahrgenommen.

Außerdem stellte sich heraus, dass die Studierenden ihre zur Prüfung mitgebrachten Smartphones, Tablet-PCs oder Notebooks nicht wirklich effizient und zielführend nutzten. Statt diese Geräte als „sehr mächtigen Taschenrechner“ zu nutzen, Ableitungen und Stammfunktionen analytisch mit einem Computeralgebrasystem zu bestimmen, eine Rechnung mit komplexen Zahlen bzw. das Lösen von Gleichungssystem in Numerikprogrammen durchzuführen oder Netzwerksimulatoren zur Probe einzusetzen, wurden die Computer hauptsächlich als schnelle Nachschlagewerke zweckentfremdet, zur Volltextsuche im Skript oder Buch, zur Wikipedia-Recherche, zum schnellen Scrollen durch Übungsmitschriften oder den Klausuraufgabenkatalog der Fachschaft, mit dem Ziel, dort eventuell eine vorgefertigte, kochrezeptartige Lösung zu finden, die irgendwie zur vorgegebenen Aufgabe passt und dann mit geringen Änderungen und Anpassungen repliziert werden kann.

Sommersemester 2023 — Open-Book-Format, analoge Einreichung und digitale Bewertung

Aufgrund dieser Erfahrungen und durch den aufkommenden Einfluss von KI-gestützen großen Sprachmodellen und Assistenten wie ChatGPT wurde das Konzept der Prüfung im letzten Sommersemester 2023 nochmals angepasst, auch weil kaum noch Pandemieeinschränkungen vorhanden waren. Statt eines Open-Web-Formats mit freier Nutzung digitaler Endgeräte durften die Studierenden im Sinne eines Open-Book-Konzepts nur noch beliebig viele analoge Hilfsmittel wie Bücher, gedruckte Skripte, Aufgabensammlungen oder eigene Übungsmitschriften mitbringen und nutzen. Der Aufgabenumfang wurde deshalb auch wieder von 10 auf 9 Aufgaben reduziert. Da ein studentischer Austausch unter Beaufsichtigung und ohne digitale Endgeräte sehr erschwert ist, wurden die Aufgaben auch nicht mehr randomisiert, was die Vergleichbarkeit erhöht und den Korrekturaufwand deutlich vermindert.

Um weiterhin bei einem voll-digitalen Bewertungsworkflow mit schnellem Feedback zu bleiben, gleichzeitig aber eine gute Bildqualität und aufgabenspezifische Bewertung zu ermöglichen, habe ich Klausurpapier mit vorgedruckten QR-Codes genutzt, die ich in einer ähnlichen Variante bereits in den Jahren zuvor eingesetzt habe. Durch die in den QR-Codes enthaltenen Informationen kann jedem Lösungsblatt der studentische Name, die zugehörige E‐Mail‐Adresse und die Aufgabennummer zugeordnet werden Nach der Abgabe habe ich dann zunächst alle studentischen Einreichungen automatisiert eingescannt und über ein weiteres selbstgeschriebenes Programm mit Hilfe der QR-Codes nach Personen und Aufgabennummern sortiert. Die so strukturierten Lösungen wurden dann auf einem universitätsinternen Cloudspeicher hochgeladen und den Korrektor*innen als PDF-Datei zur Verfügung gestellt. Die Korrektur fand digital statt, wofür viele Kolleg*innen einfache Zeichentabletts für handschriftliche Annotationen oder Kommentare in den PDF-Dateien nutzen. Nach der Korrektur wurden diese Dateien dann über Moodle direkt den Studierenden zugänglich gemacht, so dass zeitnahes Feedback und Rückfragemöglichkeiten vorhanden waren.

Dieses Format und der zugehörige Prozess haben sich sehr gut bewährt und bieten sich auch für zukünftige Prüfungen an. Nachteilig sind der Zeitaufwand zum Einscannen und für die manuelle Nacharbeit bei nicht oder falsch erkannten QR-Codes. Außerdem sind die Medienbrüche zwischen der Speicherung der unkorrigierten Lösungen in der Cloud, dem händischen Herunterladen, der lokalen Kommentierung und Zwischenspeicherung sowie dem anschließenden manuellen Hochladen in den Moodle-Kurs etwas störend, da pro zu korrigierender Lösung etwa 20 Klicks nötig sind, selbst wenn ein Prüfling nur ein leeres Blatt eingereicht hat. Beide Prozesse, das Einscannen sowie das Herunter- und Hochladen der Korrekturen, ließen sich sicherlich noch etwas optimieren.

Was bleibt nach der Pandemie und in Zeiten von ChatGPT?

In den ersten frei verfügbaren Version 3 und 3.5 konnte ChatGPT nur mit Text umgehen. Die bisher ausschließlich kostenpflichtig nutzbare Version 4 kann jedoch auch Bilder einlesen und ausgeben, was die Interpretation sowie Ausgabe von Schaltbildern oder Diagrammen zur Bearbeitung typischer elektrotechnischer Aufgabenstellungen prinzipiell möglich macht. Die Entwicklung ist dabei sehr rasant und gleichzeitig schwer absehbar. Selbstverständlich müssen Studierenden solche Werkzeuge auch im Studium nutzen, um einen souveränen Umgang damit zu erlernen. Gleichzeitig stellt sich bei der unreflektierten studentischen Anwendung von Diensten wie ChatGPT in Prüfungen die Frage, welcher Teil einer Lösung von ChatGPT und welcher vom Prüfling erstellt wurde. Bisher sind KI-Assistenten wie ChatGPT oder Google Bard nach eigener Erfahrung in ingenieurwissenschaftlichen Prüfungen eher weniger hilfreich und wenn ein Chatbot eine Aufgabe korrekt lösen kann, sagt das meist mehr über die Aufgabe als über den Chatbot selbst. Dieser Zustand kann sich jedoch schnell ändern und ein zunächst reines Sprachmodell kann nebenbei auch ein gewisses Wissens- und Logikmodell mit abbilden.

Aus Prüfer*innen-Sicht kann man nun die Nutzung von KI-Werkzeugen wie ChatGPT in Prüfungen erlauben und dafür das Niveau der Aufgaben, deren Anzahl oder den Bewertungshorizont anpassen. Alternativ kann man versuchen, die Nutzung von ChatGPT in Prüfungen zu verbieten oder einzuschränken, was jedoch nicht mit einem BYOD-Konzept ohne Safe-Exam-Browser kompatibel ist.

Eine weitere Möglichkeit zur einschränkbaren Nutzung, z. B. nur für einen Teil der Prüfung, sind E-Prüfungscenter mit entsprechend konfigurierten PCs. Hier kann man durch entsprechende Rechteverwaltung gewisse Software freigeben (z. B. Computeralgebrasysteme, Numerikprogramme, Netzwerksimulatoren, Unterlagen im Moodle-Kurs, Wikipedia etc.), gleichzeitig aber die sonstige Nutzung des Internets einschränken (z. B. aktive Forennutzung, Messengerdienste, ChatGPT, etc.) oder nur für einen Teil der Prüfung erlauben. Da in einem solchen E-Prüfungscenter alle Studierenden ein funktionstüchtiges Endgerät mit der entsprechenden Software zur Verfügung haben, könnte man dort auch verpflichtende Aufgaben mit Softwarenutzung (z. B. von MATLAB oder LTspice) in Prüfungen vorsehen, was mit einem BYOD-Konzept nur eingeschränkt möglich ist. Werden die Rechner in einem E-Prüfungscenter auch mit einem eigenen Scanner bzw. einem Digitizer ausgestattet, können Prüflinge ihre handschriftlichen Lösungen oder Lösungsansätze auch selbst einscannen und direkt zur Bewertung in Moodle hochladen und einreichen, was den vorher beschriebenen Scanaufwand und die Medienbrüche minimiert bzw. verhindert.

Mehr verfügbare Technik, günstigere Hardware, gut ausgestattete E-Prüfungscenter oder zuverlässig nutzbare Zugänge über Lernmanagementsystem wie Moodle ermöglichen viele Optionen zur flexiblen Gestaltung, Optimierung oder Anpassung von Prüfungsformaten an sich ändernde gesellschaftliche Randbedingungen. Gleichzeitig ermöglichen handschriftliche Lösungen gerade in ingenieurwissenschaftlichen oder mathematischen Grundlagenfächern eine sehr schnelle und intuitive Verschriftlichung eines Lösungsweges mit Formeln, Symbolen, Skizzen und Diagrammen. Nicht jede E-Prüfung muss deshalb nur aus Multiple-Choice-Fragen bestehen und eine Prüfung ist nicht notwendigerweise analog, nur weil ein Prüfling einen Stift in der Hand hat.

Lehrpersonen und Prüfer*innen stehen deshalb in Zukunft vor deutlich mehr Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten von Prüfungsformaten als vor der Pandemie, analog vs. digital, handschriftlich vs. textbasiert, online vs. offline, als Take-Home-Variante oder in Präsenz, überwacht vs. unüberwacht, mündlich vs. schriftlich, Einzel- vs. Gruppenprüfung, automatisch vs. manuell korrigierbar, etc. Eine Herausforderung liegt darin, aus der Vielfalt der Möglichkeiten das passendste Format auszuwählen und effizient umzusetzen. Dabei hilft aus eigener Erfahrung auch eine gewisse Informations- und Programmierkompetenz zur Automatisierung wiederkehrender Aufgaben. Die temporeiche Entwicklung von Werkzeugen wie ChatGPT zwingt einen dabei immer wieder kurz innezuhalten, gedanklich einen Schritt zurück zu treten und sich zu überlegen, was die Studierenden eigentlich lernen und welche Kompetenzen sie entwickeln sollen, welche Methode und Prozesse geeignet sind, um das dazu nötige Wissen zu vermitteln, wie die Studierenden gut beim eigenen Kompetenzerwerb unterstützt werden können, wie man den Lernfortschritt und die Kompetenzen gut (formativ und summativ) prüfen kann, und welche Fehlanreize sich dabei ergeben.